Die ersten Sachsen galten als kriegerische Plünderer, später wurden sie Könige und Kaiser – und der Name „Sachsen“ wanderte ostwärts. Wer diese Menschen wirklich waren und woher sie kamen, ist ein Forschungsfeld mit noch immer etlichen weißen Flecken.
Wer „Sachsen“ hört, denkt dabei an Leipzig, Dresden oder das Elbsandsteingebirge. Das Bundesland, vormalige Königreich und Kurfürstentum Sachsen aber verdankt seinen Namen eher historisch-dynastischen Zufällen. Vom 12. Jahrhundert an wanderte er durch Erbfolge und die Übertragung der Kurwürde, des Rechts zur Königswahl, ostwärts.
Der heutige Freistaat und seine Einwohner sind gewissermaßen eine spätere sächsische Version 2.0. Denn jene germanischen Bevölkerungsgruppen, die deutlich früher als Sachsen in die Geschichtsschreibung einzogen, lebten ganz woanders, hauptsächlich im Nordwesten Deutschlands. Wer diese Menschen wirklich waren und woher sie kamen, ist ein Forschungsfeld mit noch immer etlichen weißen Flecken. Der Dokumentarfilm „Die Sachsen – Piraten. Heiden. Kaiser“, den Arte am 26. Juli 2025 um 20.15 Uhr zeigt, folgt ihren Spuren.
Die Zeitreise zu den Ursprüngen führt in die Spätantike. Vom 4. Jahrhundert an tauchte der Name „Saxones“ in römischen Quellen auf – allerdings nicht für eine Ethnie mit fest umrissenem Siedlungsgebiet. Die wahrscheinlichste Herleitung sei das Wort „Sax“, sagt der Historiker Matthias Hardt vom Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa in Leipzig. So hieß eine in Mittel- und Nordeuropa verbreitete einschneidige Hiebwaffe.
Die Chronisten jener Epoche hätten die Saxones somit – ausgehend von deren wichtigstem Kriegswerkzeug – „Messerleute“ genannt. Als „mobile Gruppen skrupelloser, mordgieriger Männer, die mit Schiffen die Nordsee und den Ärmelkanal befahren und anliegende Gebiete terrorisieren und ausplündern“, beschreibt sie die im vergangenen Jahr verstorbene Prähistorikerin Babette Ludowici in ihrem 2022 erschienenen Buch „Die Sachsen“.
Die frühen Sachsen selbst hinterließen keine Zeugnisse in niedergeschriebener Form, die etwas über sie preisgeben, allenfalls ein paar Runeninschriften. Damit aus der Fremdbezeichnung für Piraten und Plünderer ein Eigenname wurde, der zwischen Rhein und Elbe lebende Menschen verband, bedurfte es eines tiefgreifenden Wandels. Der trat zu Beginn des 9. Jahrhunderts ein, als nach 30 Jahren sogenannter Sachsenkriege die Franken unter Karl dem Großen (747/48–814) ihre Nachbarn im Osten unterwarfen, christianisierten und in ihr Reich eingliederten.
„Erst diese Niederlage und die Notwendigkeit, sich damit auseinanderzusetzen, hat ein Einheitsgefühl herbeigeführt“, erläutert Matthias Hardt im Gespräch mit dem Arte-Magazin. Es sei darum gegangen, auf Augenhöhe mit den Franken zu kommen. Vor allem Geschichtsschreiber in neu gegründeten Klöstern hätten die Bezeichnung „Sachsen“ für sich und eine großräumige Nachbarschaft übernommen.
Nach historischen Maßstäben erstaunlich schnell entwickelten sich neue Machtstrukturen. Binnen eines Jahrhunderts traten sächsische Adlige in fränkische Fußstapfen. 919 saß mit Heinrich I. (876–936) aus dem Geschlecht der Liudolfinger der erste Sachse auf dem Königsthron des Ostfrankenreichs, das aus Herrschaftsteilungen nach dem Tod Karls des Großen hervorgegangen war. Karl hatte sich im Jahr 800 in Rom vom Papst zum Kaiser krönen lassen – verbunden mit der Vorstellung, das antike Römische Reich zu erneuern und auf Franken zu übertragen. Diese starke Symbolik beflügelte auch die sächsischen Könige: Heinrichs Sohn Otto I. (912–973), der mit dem Beinamen „der Große“ in die Annalen einging, machte mit seiner Krönung zum Römischen Kaiser im Jahr 962 den Aufstieg der ottonisch-sächsischen Dynastie perfekt.
Inwiefern ist heute ein Rückgriff auf altsächsische, frühmittelalterliche Traditionen möglich? Sind etwa die Niedersachsen – wegen des einstigen Siedlungsgebiets – tatsächliche Nachkommen und sozusagen die wahren Sachsen? Nein, sagt Experte Hardt, denn solche Kontinuitäten seien ein „Konstrukt des 19. Jahrhunderts“, als die Geschichtsschreibung „germanische Stämme zu mehr oder weniger direkten Vorläufern der damals bekannten Bestandteile Deutschlands“ machen wollte.
Dass neben dem heutigen Freistaat Sachsen als hochmittelalterlichem Namenserben noch bei zwei weiteren deutschen Bundesländern das Wort „Sachsen“ auftaucht, ist eine Folge des Zweiten Weltkriegs und der Auflösung Preußens. Sachsen-Anhalt entstand schon einmal für kurze Zeit (1946–1952) in der Sowjetischen Besatzungszone und dann erneut 1990 im vereinten Deutschland.
Niedersachsen wiederum ist eine Nachkriegserfindung der britischen Besatzungsmacht. Auch dessen Wappenpferd springt erst seit dieser Zeit. Wobei es zu dem vermeintlichen Sachsenross eine alte Legende gibt: Als Zeichen der Unterwerfung mitsamt christlicher Taufe sei der Schild des sächsischen Anführers Widukind, auf dem ein schwarzes Pferd geprangt habe, vom siegreichen Franken Karl dem Großen gegen einen Schild mit weißem Pferd ausgetauscht worden. Zu schön, um wahr zu sein.
„Die Sachsen – Piraten. Heiden. Kaiser“, bis Januar 2026 in der Arte-Mediathek.
Oliver de Weert