Freie Sachsen: War dieser Rücktritt erst der Anfang?


Am Dienstag der vergangenen Woche kündigte Dirk Neubauer, parteiloser Landrat des Landkreises Mittelsachsen, seinen Rücktritt an. „Ich bin seit Monaten konfrontiert mit einer persönlichen diffusen Bedrohungslage aus rechter Ecke“, sagte er in einer Videobotschaft. Für die Bedrohungen seien „hauptsächlich Freie Sachsen verantwortlich“ – eine rechtsextreme Kleinstpartei, die insbesondere auf Telegram eine riesige Anhängerschaft erreicht. Im Hauptkanal der Freien Sachsen feierten sich Mitglieder kurz nach Neubauers Mitteilung frenetisch, sie hätten einen „Vertreter des Establishments“ durch „friedlichen“ Protest zum Aufgeben gebracht. Wie konnte es so weit kommen – und was bedeutet dieser Fall für die sächsische Kommunalpolitik?

Überraschend kommt der Rücktritt keineswegs. Er ist Symptom einer gefährlichen Strategie, die die Freien Sachsen seit ihrer Gründung 2021 verfolgen. Während die sächsische AfD langfristig auf eine Koalition mit der CDU schielt und ihre Radikalität weniger offen zur Schau trägt, sprechen die Freien Sachsen offen über einen angestrebten Systemwechsel – und handeln entsprechend. Sie bauen Bürgerwehren auf oder organisieren Proteste vor Privatwohnungen von Politikern. Opfer solcher Aufmärsche wurde während der Pandemie etwa Ministerpräsident Michael Kretschmer, Anfang dieses Jahres auch Landrat Neubauer.

Spätestens seit die Freien Sachsen im Juni zur sächsischen Kommunalwahl antraten, ließ sich eine Veränderung innerhalb ihrer Strategie beobachten. Bundespolitische Themen wie die Pandemie, den russischen Angriffskrieg oder Migrationsfragen stülpt die extreme Rechte mit Vorliebe der Kommunalpolitik über. Heißt: Nicht mehr die Regierung in Berlin ist das Feindbild, sondern Kreistagsabgeordnete, Bürgermeisterinnen oder Landräte der demokratischen Parteien. Sie werden persönlich dafür verantwortlich gemacht, dass sie die angeblich diktatorischen Vorgaben der höheren Ebenen in den Kommunen umsetzen.

„Wir greifen in Sachsen von unten an“

Wie eine Auswertung des Kommunalwahlkampfes der Freien Sachsen durch das Institut für Geographie der Technischen Universität Dresden zeigt, hat dieser Strategiewechsel System. Die Partei hat die Kommunalpolitik als diejenige Ebene der Demokratie identifiziert, die am verletzlichsten für Angriffe ist. Der stellvertretende Parteivorsitzende Stefan Hartung formulierte dies in einem Video mit den Worten: „Wir greifen hier in Sachsen von unten an.“ Der Plan geht auf, weil Kommunalpolitiker weitgehend ehrenamtlich arbeiten. Während Landes- oder Bundespolitikerinnen ein großes Team und Sicherheitskräfte um sich herum haben, betreiben Kreis- und Gemeinderäte die Politik meist neben Familie und Job. Ihnen fehlen Strukturen, die Hilfe bieten.

Das nutzen die Freien Sachsen aus. Wenn ein Landkreis über die Unterbringung Geflüchteter entscheidet, rufen die Rechtsextremen zur Demonstration vor das Kreistagsgebäude – oder stürmen gleich den Sitzungssaal wie im vergangenen Jahr im ostsächsischen Zittau. Setzen sich der Landrat oder einzelne Kreisräte für Windräder ein, werden diese mit Namen und Gesicht im Telegram-Kanal der Partei vor über 130.000 Abonnenten angeprangert. In Dresden bedrohten Kader der Freien Sachsen kürzlich einen Stadtratskandidaten der Piratenpartei über die sozialen Medien. Das Ziel: ein Klima der Angst, in dem Politiker entweder so eingeschüchtert sind, dass sie nur noch solche Projekte umsetzen, die auf keinen rechten Protest stoßen, oder sich zur Aufgabe gezwungen sehen.

So wie Landrat Neubauer aus Mittelsachsen. Dort sind die Freien Sachsen besonders stark und arbeiten mit einer Vielzahl langjährig aktiver Neonazis zusammen, die zu grenzüberschreitenden Aktionen bereit sind. Nachdem Neubauer Anfang des Jahres eine Demonstration für Demokratie und gegen Rechtsextremismus besucht hatte, erklärte ihn die Partei zum neuen Hauptfeind. Anhänger fuhren in Autokorsos zu seinem Wohnort und demonstrierten dort, um mit ihm „in Dialog“ zu treten, wie sie auf Telegram schrieben. Wenig später tauchten Plakate auf, die Neubauer in Sträflingskleidung zeigten. Als der Landrat wegen der Bedrohungslage umzog, riefen die Freien Sachsen ihre Anhänger auf, seine neue Adresse herauszufinden. Kurz darauf trat der Landrat zurück. Die Freien Sachsen hatten gewonnen.

Wenn Solidarität fehlt

Solidarität erhielt Neubauer indes nur wenig. Noch am Tag seines Rückzugs teilte etwa die Vorsitzende der sächsischen FDP, Anita Maaß, mit, ein Landrat dürfe „weder selbst politisch polarisieren noch bei Gegenwind die Flinte ins Korn werfen“ – sprich: Die Bedrohungen habe Neubauer sich selbst zuzuschreiben.

Tatsächlich ist Zusammenhalt unter Demokraten gerade im ländlichen Bereich ein entscheidender Faktor. Denn die Gefahr liegt in der räumlichen Nähe: Lokalpolitiker können sich nicht verstecken. In kleinen Ortschaften kennt jeder den Wohnort des anderen, Privatadressen gelangen schnell in die Hände von Rechtsextremen. Zugleich finden Bedrohungen im kommunalen Bereich nur selten einen Weg in die Medien, es fehlt an Unterstützung durch die Zivilgesellschaft und an Handlungskonzepten. Durch die Einschüchterung können Rechtsextremisten massiven Einfluss auf Entscheidungen in den Kommunen nehmen. Zudem stellt sich die Frage: Wer will in diesem Klima noch in die Lokalpolitik gehen?

Künftig dürfte der Druck steigen, zumal in Sachsen. Seit der Kommunalwahl im Juni sind die Freien Sachsen in allen Kreistagen und in einigen Stadt- und Gemeinderäten vertreten. Sie haben angekündigt, ihre Angriffe fortzusetzen.



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Author: admin

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