Bruder begleitet kleine Schwester
„Ich habe Angst vor großen Fahrzeugen, wenn die an mir vorbeirasen. Dann muss ich manchmal auch weinen“, sagt Marie stockend. Ängstlich stellt sie sich einen Schritt näher an ihren großen Bruder ran, als ein Lkw kommt. „Mein Bruder bringt mich immer zum Bus, da fühle ich mich sicher.“ Ihr Bruder John ist 13 Jahre alt und holt sie auch oft von der Bushaltestelle ab, wenn die Eltern noch auf der Arbeit sind.
Ich habe Angst vor großen Fahrzeugen, wenn die an mir vorbeirasen. Dann muss ich manchmal auch weinen.
Bei Wind und Wetter, in seine eigene Nachmittagsgestaltung muss er seine Schwester einplanen. Nicht immer mache ihm das Spaß sagt er diplomatisch. Aber auch er findet den Weg zu unsicher für seine Schwester. Manchmal machen sie einen Umweg über das Feld, aber das geht nicht bei jedem Wetter, manchmal sinkt man dort auch ein, erzählt der Oberschüler.
Schulweg entlang der S91 ohne Gehweg
– Rödern ist ein Ortsteil von Ebersbach und liegt in der Nähe der Autobahn 13.
– Der Schulweg von Marie und John führt etwa 500 Meter entlang der Radeburger Straße, der Staatsstraße 91. Sie verbindet das südlich gelegene Oberrödern, wo die Familie wohnt, mit dem nördlich gelegenen Niederrödern, wo sich ihre Bushaltestelle befindet.
– Die Straße dient dem Durchgangsverkehr. Im benachbarten Radeburg finden sich drei große Speditionen und das Zentrallager eines großen Discounters. Auch in Thiendorf und Zeithain sind große Logistikunternehmen ansässig, deren Verkehr zum Teil auch durch Rödern fließt.
– Laut Sächsischem Straßengesetz sind für die Unterhaltung und Instandsetzung von Staatsstraßen die jeweiligen Landkreise zuständig, Planung und Bau liegen in der Verantwortung des Straßenverkehrsamtes Lasuv
Eltern sorgen sich
„Der Verkehr, die Lkw, Fahrzeuge, die sich nicht an die Geschwindigkeitsbegrenzung halten, im Winter müssen die Kinder auf der Straße laufen“, zählt Mutter Bettina Manthey auf, warum sie sich täglich Sorgen macht. Auf der einen Seite ist die Fahrbahn begrenzt durch eine Leitplanke, direkt neben der Straße. Danach ist das Gelände abschüssig zum Rödertal hin und mündet in ein Feld.
Wir schicken unsere Tochter mit einem sehr schlechten Gefühl in die Schule.
Auf der anderen Fahrbahnseite ist ein schmaler Grünstreifen. Zurzeit ist er gemäht, doch im Sommer ist das Gras manchmal so hoch, dass Marie ganz dicht neben der Straße laufen muss, wenn sie zur Schule will, erzählt ihre Mutter. „Wir schicken unsere Tochter mit einem sehr schlechten Gefühl in die Schule“, sagen die Eltern.
Kinder gewinnen vor Gericht gegen Landkreis Meißen
Schon als John noch in der Grundschule war, haben die Eltern versucht, an der Situation etwas zu verändern. Vater Daniel telefonierte mit dem Landkreis Meißen, Mutter Bettina schrieb E-Mails. Ihr Ziel: eine Tempo-30-Zone in Rödern.
Irgendwann landete die Sache vor Gericht. John war da in der vierten Klasse. In erster Instanz hat die Familie verloren, doch dann bekamen sie Recht. Nachdem ursprünglich Vater Daniel im Sinne seiner Kinder geklagt hatte, wurden vom Richter inzwischen die Kinder als Kläger und Klägerin eingesetzt. Damit haben die Kinder gegen den Landkreis Meißen gewonnen. Doch sicherer ist ihr Schulweg trotzdem nicht geworden.
Landkreis Meißen legt Beschwerde gegen Urteil ein
Denn rechtskräftig ist das Urteil des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom Oktober 2024 noch nicht. Das Kreisverkehrsamt des Landratsamtes Meißen akzeptiert das Urteil nicht und hat Beschwerde eingelegt, denn es wurde nicht zur Revision zugelassen. Genau die möchte der Landkreis aber einlegen.
Eine Geschwindigkeitsbegrenzung einzuführen, lehnt der Landkreis ab. Die Argumentation ist im Urteil nachzulesen: Der Streckenabschnitt sei kein Unfallschwerpunkt. Außerdem würden Verbesserungen nur durch bauliche Maßnahmen erreicht werden. Doch aufgrund der laufenden Ausbauplanungen würden keine Sofortmaßnahmen eingeleitet. Und hier kommt die nächste Behörde ins Spiel, das Landesstraßenverkehrsamt Lasuv.
Warum die Gemeinde keinen Gehweg baut
Bürgermeister Falk Hentschel bedauert die Situation der Familie und sagt MDR SACHSEN, dass die Gemeinde nicht einfach einen Gehweg bauen könne. Seit Jahren sei ein Ausbau der viel befahrenen Straße geplant. Erst im Zuge dessen könnten auch Gehwege und neue Beleuchtung gebaut werden, da die Straße gegebenenfalls verbreitert, angehoben oder abgesenkt werde, erklärt Hentschel. Weil es eine Staatsstraße ist, sei für den Ausbau jedoch nicht die Gemeinde zuständig, sondern das Lasuv.
Seit 15 Jahren geht nichts voran
„Ich als Bürgermeister wünsche mir sehr, dass der Freistaat Sachsen hier seinem Auftrag nachkommt, den er uns seit vielen Jahren zugesagt hat, die Planung und die Ausführung des Staatsstraßenausbaus vorzunehmen, damit wir als Gemeinde die Möglichkeit haben, begleitend zu dieser Baumaßnahme einen Fußweg zu errichten.“ Seit 15 Jahren warte man auf die Planung und Ausführung durch den Freistaat.
Lasuv: Aussagen zu Straßenausbau im Sommer
Eine Lasuv-Sprecherin teilte MDR SACHSEN auf Anfrage mit, die Planungen für den Ausbau der S91 in Rödern seien aktuell unterbrochen. „Ein Termin für die Bearbeitung neuer Projektphasen kann aufgrund der angespannten Haushaltssituation und der vorläufigen Haushaltsführung derzeit nicht benannt werden.“
Wie die Sächsische Zeitung berichtete, war der Ausbau ursprünglich für 2024 angekündigt. Erst mit Beschluss des Doppelhaushaltes 2025/2026 durch den Sächsischen Landtag werde sich der künftige Handlungsspielraum für die Straßenbauverwaltung belastbar zeigen. „Damit ist nach jetzigem Stand voraussichtlich bis zum Sommer zu rechnen.“
Landkreis Meißen gegen Tempo 30
Und warum stellt der Landkreis Meißen kein Tempo-30-Schild auf, anstatt den Rechtsstreit mit Familie Manthey weiterzuführen? Auf MDR-SACHSEN-Anfrage teilt eine Sprecherin mit, dass die Untere Verkehrsbehörde bislang keine Geschwindigkeitsbeschränkung angeordnet habe, „da es eine hinreichende Gefahrenbeschilderung gibt“.
Gemeint sind zwei Schilder: Ein Warnschild „Achtung Kinder“ über dem Tempo-50-Schild und ein Schild, an die Freiwilligkeit appellierend, 30 Km/h zu fahren. Aus Sicht des Landkreises eine gute Lösung: „Die Regelung ist folglich weitreichender als eine konkrete Geschwindigkeitsreduzierung“, so die Sprecherin.
Von dem Geld für die Gerichtskosten hätte man hier locker zwei Schilder aus Gold aufstellen können.
Streitwert liegt bei 2.500 Euro
„Wir wünschen uns vom Landkreis Meißen, dass er seine Beschwerde zurückzieht und hier endlich eine Tempo-30-Zone einrichtet“, betont Vater Daniel. Mit Blick auf die Verfahrenskosten scherzt er: „Von dem Geld für die Gerichtskosten hätte man hier locker zwei Schilder aus Gold aufstellen können.“ Laut OVG-Urteil beträgt der Streitwert 2.500 Euro.
Gefährlich oder nicht?
Darüber, wie gefährlich die Straße ist, haben Familie Manthey und der Landkreis Meißen unterschiedliche Ansichten: Während die Mantheys der Auffassung sind, dass der Schulweg entlang der S91 gefährlich für ihre Kinder ist, wird die Auffassung des Landkreises im Urteil so beschrieben: Der Schulweg weise „keine besondere Gefahrenlage auf.“ Die Straße sei „bis auf wenige Passagen übersichtlich und von weitem einsehbar.“
Zudem sei in den Jahren 2021 bis 2024 „kein erhöhtes Unfallgeschehen festzustellen gewesen.“ Es müsse erst was passieren, interpretiert Mutter Bettina Manthey.
Gegen ein Tempo-30-Schild spricht aus Sicht des Landkreises auch, dass der Schulweg nicht hochfrequentiert ist, „weil den Schulweg in diesem Fall – soweit ersichtlich – nur der Kläger und die Klägerin frequentieren“, wie aus der im Urteil dargestellten Argumentation des Landkreises hervorgeht.
Wegen gesperrter Abfahrt Thiendorf: Tempo 30
Ab dem 18. März werde temporär eine Tempo-30-Zone in ganz Rödern eingerichtet, teilt der Landkreis Meißen MDR SACHSEN mit. Allerdings nur für Lkw und nicht, um dem Wunsch der Familie Manthey nachzukommen. Denn in Thiendorf wird für mehrere Monate eine Autobahnabfahrt gesperrt, die Umleitung führt über die S91 in Rödern. Für Marie und John bedeutet das: noch mehr Verkehr. Wie sie das findet? „Blöd“, sagt die Neunjährige.